June 3, 2018
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Christoph Vratz

Deutschlandfunk

Eine Sinfonie von Joachim Kaiser? Eine Klaviersonate von Karl Schumann oder Ulrich Schreiber? Eine Kantate von Eleonore Büning oder Manuel Brug? Was uns heutzutage in der Literatur noch vergleichsweise häufig begegnet, dass Kritiker selbst zu Autoren werden, bildet in der Musik die Ausnahme. Dafür muss man schon zu Robert Schumann, Hector Berlioz oder Claude Debussy zurückgehen. Doch auch für sie gilt: Sie wurden und werden vor allem als Komponisten wahrgenommen, und erst in zweiter oder dritter Linie als Musikkritiker. Bei Hjalmar Borgström hingegen ist das anders. Von 1907 bis zu seinem Tod 1925 schrieb er in seiner norwegischen Heimat Musikkritiken und wurde damit zu einer nationalen Instanz. Das Komponieren geriet für ihn mehr und mehr zum “Nebenbei”. Umso erstaunlicher, dass er nebenbei 1914 ein Violinkonzert schreibt.

Allegro con spirito, so hat Borgström das Finale zu seinem Violinkonzert überschrieben. Die Geige eröffnet furios. Dann klinkt sich das Orchester ein und bereitet den Boden für die weitere Gestaltung des Eingangsthemas: Es dominiert pure Spiellust, halb ungarisch “alla zingarese”, halb im Sinne der norwegischen Fiddle-Tradition.

Komponist mit eigenem Kopf und ohne nationale Scheuklappen

Erinnert dieser Beginn des Finalsatzes nicht ein wenig an das Violinkonzert von Johannes Brahms? Die Intervalle bei der Sologeige, die ungezügelte Spielfreude? Originär norwegisch klingt das jedenfalls nicht. Dafür gibt es biographische Gründe. Denn Borgström hat vorwiegend in Deutschland, ab 1887 in Leipzig und ab 1890 in Berlin studiert, wo er in Ferruccio Busoni einen prominenten Fürsprecher fand. Borgström selbst war fasziniert von der Macht der Programmmusik im Sinne eines Franz Liszt und auch von der Klangsprache Richard Wagners. Wieder zurück in Norwegen war Borgströms Musik nur wenig Erfolg beschieden. Das lag sicher auch daran, dass sie eben kein spezifisch norwegisches Idiom aufweist wie bei Edvard Grieg. Auch Grieg hatte in Deutschland studiert, wollte aber in Norwegen eine nationale Tonsprache etablieren. Genau das wollte Borgström nicht. Er wählte einen eigenen Weg. Sein Œuvre ist insgesamt, mit je zwei Opern und Sinfonien, wenigen Konzerten und Solowerken, eher schmal.

Erst ein Mal, nämlich im Jahr 2008, ist Borgströms Violinkonzert auf CD dokumentiert worden, mit Jonas Båtstrand, dem Sinfonieorchester der Norrlandsoperan und Terje Boye Hansen am Pult. Jetzt liegt das Werk in einer Neueinspielung vor. Sie übertrifft die ältere Version deutlich. Dabei handelt es sich um die Debüt-CD der norwegischen Geigerin Eldbjørg Hemsing. Schon als Fünfjährige hat sie mit ihrer Schwester vor der Königsfamilie ihres Heimatlandes konzertiert. Mit elf Jahren trat sie erstmals mit den Philharmonikern aus Bergen auf. Mit 22 erfolgte ihr internationaler Durchbruch, als sie sich bei der Friedensnobelpreisverleihung in Oslo präsentierte. Studiert hat Hemsing unter anderem in Wien. Die Noten zu Borgströms Konzert bekam sie bereits vor einigen Jahren geschenkt, doch blieben sie zunächst unbeachtet in einer Ecke liegen. Als die Geigerin dann doch einen genaueren Blick wagte, war sie schnell entflammt. “Was für eine fantastisch schöne, romantische Musik, und dabei auch noch gut spielbar”, so wird Hemsing in der Wochenzeitung “Die Zeit” zitiert. Die Wiener Symphoniker unter Olari Elts eröffnen dieses Violinkonzert, und nach nur wenigen Takten tritt bereits die Sologeige hinzu, anders als in den gewichtigen Traditions-Konzerten von Beethoven und Brahms. Auch wenn der Einsatz der Pauke am Beginn doch ein bisschen an das Beethoven-Konzert erinnert.

Die Tempi der Sätze zwei und drei sind in beiden vorliegenden Einspielungen nahezu gleich. Nur im ersten Satz sind Eldbjørg Hemsing und das Wiener Orchester etwas langsamer unterwegs, dafür mit ungleich klarerem Gestus. Die Übergänge gelingen fließend und natürlich, die Steigerungen organisch. Hemsings Ton leuchtet hell, aber nicht grell oder vordergründig brillant. Sie spielt durchaus mit Schmelz, aber frei von Kitsch. Wenn im Mittelteil des ersten Satzes die Musik immer dramatischere Züge annimmt, wenn Sologeige und Orchester sich mehr und mehr in einen Disput steigern, behauptet sich Hemsing geradezu kühn – mit Kraft und gleichzeitig mit einem flammenden Ton.

Top-Geigerin mit großer Klangfarbenpalette

Eldbjørg Hemsing spielt auf einer Guadagnini-Geige aus dem Jahr 1754, die ihr eine Stiftung zur Verfügung gestellt hat. Das Instrument ist, selten genug, fast noch im Originalzustand. Man muss sich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, um zu behaupten, dass man von Hemsing künftig noch einiges hören wird. Denn wie sie im langsamen Satz mit warmen, fast bronzenen Klangfarben arbeitet, um zwischenzeitlich mit größter Selbstverständlichkeit den Ton ins Silbrige zu verlagern, das zeugt von großer Klasse und verspricht einiges für ihre Zukunft.

Was diese Einspielung so besonders macht, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Eldbjørg Hemsing die leisen und sehr leisen Passagen meistert. Dann lässt sie ihre Geige wundervoll singen: geheimnisvoll und poetisch, arios und tänzerisch. unterstützt durch die zarten Zupfer der Streicher und kurze Intermezzi der Klarinette.

Vieles an dieser neuen Einspielung ist ungewöhnlich, vor allem das Programm. Denn eine direkte Verbindungslinie zwischen Hjalmar Borgström und Dmitri Schostakowitsch gibt es nicht. Als der Norweger 1925 mit 61 Jahren starb, war sein russischer Kollege erst noch auf dem Sprung zu einer großen Karriere. Schostakowitschs erstes Violinkonzert entstand 1948, zu einer Zeit, als die stalinistische Partei sein Schaffen mit Argus-Augen überwachte. Was nicht mit ihren Richtlinien konform ging, wurde abgelehnt, und der Komponist hatte Repressalien zu fürchten. Daher erfolgte die Premiere dieses Konzertes erst im Jahr 1955 mit David Oistrach als Solist.

Auch in diesem Konzert bilden Geigerin Eldbjørg Hemsing, die Wiener Symphoniker und Olari Elts eine Einheit. Das zeigt besonders der schroffe Gegensatz zwischen dem dunklen, einleitenden Notturno und dem bizarren Scherzo. Wie hier die säuselnden Bläser, Bassklarinette und Flöte, mit den schroffen Akzenten der Solovioline kontrastieren, das verrät Schärfe, Bitternis und, bezeichnend für Schostakowitsch, beißenden Humor. Das gilt in gleichem Maße für die sich unmittelbar anschließende Passage, wenn die Geige das Kommando übernimmt und die Streicher hinzutreten.

Verträumt bis bärbeißig – Schostakowitschs erstes Violinkonzert

Eldbjørg Hemsing ist gewiss kein musikalischer Muskelprotz, dem es in erster Linie auf äußere Effekte ankommt. Die Norwegerin erweist sich als sensible Künstlerin, die sich und ihren Ton immer wieder genauer Prüfung unterzieht. Daher findet sie für jede Stimmung einen adäquaten Ausdruck, ob verträumt und nach innen gekehrt oder bärbeißig und virtuos. Ihre technischen und musikalischen Fähigkeiten gehen Hand in Hand. Wenn es, wie im Finalsatz von Schostakowitschs erstem Violinkonzert, schnell zugeht, spiegelt diese Aufnahme den experimentellen Geist des Komponisten. Doch trotz der vielen, teils schnellen rhythmischen und dynamischen Umschwünge: Hemsings Geige klirrt nie, auch geraten die kurzen Linien nicht aus dem Fokus. Die Solistin weiß genau, wo sie hinmöchte und wie sie die Höhepunkte ansteuern muss, um deren ganze Wirkung so spontan und natürlich wie möglich herauszuarbeiten. Das ist eindrucksvoll und rundet den sehr positiven, stellenweise herausragenden Gesamteindruck dieser neuen Produktion ab.

Heute haben wir Ihnen die Debüt-CD der Geigerin Eldbjørg Hemsing vorgestellt. Mit den Wiener Symphonikern und Olari Elts hat sie Violinkonzerte von Hjalmar Borgström und Dmitri Schostakowitsch aufgenommen, erschienen ist sie als SACD beim schwedischen Label BIS.